Einmal kurz genauer hingeschaut…

„Die Auswüchse der Fanokratie“ titelt das Onlinesportportal Sport1.de und ist sich sicher, die Gründe für die zunehmende Protestkultur in deutschen Fußballstadien zu kennen. Dabei enthält bereits die Überschrift genauer betrachtet den ersten Fehler, denn von einer echten Basisherrschaft der Fans im Profifußball kann nun wirklich keine Rede sein. Weil der Autor Maik Rosner das Vorhandensein von Interesse vorgibt, nicht nur medientypisch den Übeltäter in der die jeweilige Fanszene dominierenden Gruppierung – zumeist die lokalen Ultras -, sondern auch nach den Ursachen für die Unzufriedenheit mit der von oben praktizierten Vereinspolitik zu suchen, soll der Versuch dessen hiermit einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Es wird verdeutlicht, welcher Mittel sich der Schreiber bedient, um die Sympathie des Lesers weg von den Protestlern hin zu den Attackierten zu lenken. Auch sollen einige im Artikel thematisierte Sachverhalte eine genauere Darlegung erfahren und ggf. Ergänzungen vorgenommen werden.

Besonders effektiv für das Ziel, eine Parteiergreifung der Leserschaft zu erwirken, ist das Schüren von emotionaler Betroffenheit, denn dafür sind die Deutschen bekanntlich besonders empfänglich. Im Fußballkontext hierfür hervorragend geeignet: Der Freitod des früheren Nationaltorhüters Robert Enke, dessen Ursache ein jeder richtigerweise in der „kalten, unmenschlichen“ Welt des Spitzenfußballs fand – ohne jedoch nach der Wurzel des Übels, von der später noch die Rede sein wird, zu graben. Der Artikel jedenfalls konstruiert eine Parallele zwischen dem Leistungsdruck einerseits, der als Grund für den Tod Enkes gilt, und den neuerlichen verbalen Anfeindungen gegen Bayern-Präsident Uli Hoeneß andererseits, der sich allen Beteuerung zum Trotz für die Rettung des insolventen Stadt- und Erzrivalen des FC Bayern, dem TSV 1860 München, engagiert.

Dass es sich beim „Mr. FC Bayern“ nicht gerade um ein Unschuldslamm handelt, findet erst im letzten Absatz des Artikels Erwähnung. Bis dorthin nimmt Hoeneß die zur Erweckung von Sympathie vorteilhafte Rolle des Opfers ein. Vor einer guten Dekade war es der „herzliche Uli“, der die Kokainaffäre um den Beinahe-Bundestrainer Christoph Daum entfachte, vorgeblich mit dem Ziel, das Ansehen des deutschen Fußballs vor Schaden zu bewahren. Hoeneß‘ Kritiker erkannten in dessen Verhalten dagegen das Bemühen, den jahrelang schwelenden Konflikt mit dem Lieblingsrivalen für sich zu entscheiden. Mit Erfolg – denn Daums Reputation war vorerst hinüber. Auch heute, kurz nach Bekanntgabe der Einstellung Daums als Trainer der Frankfurter Eintracht, ist der Wurstfabrikant um keine schnippische Bemerkung gegen den Intimfeind verlegen.

Egal – Rosner und seinesgleichen sind sicher: Den kritischen Stimmen geht es nicht um die Partizipation im Vereinsgeschehen und die Verfolgung einzelner Interessen wie die Verhinderung einer Verpflichtung des mit der Gelsenkirchener Ultràszene harmonierenden Schalke-04-Keepers Manuel Neuer oder die Verhinderung einer Rettung der „Löwen“, sondern um die (vereinsfunktionale) Defacto-Eliminierung des ehemaligen Bayern-Managers, dessen Einfluss auf das Vereinsleben nach wie vor allgegenwärtig erscheint. Beweise für diese These, wonach die aktiven Bayernfans mit dem ohnehin völlig unrealistischen Rücktritt Uli Hoeneß‘ ihr wahres Ziel erreicht hätten, bleibt der Autor schuldig.

Stattdessen wird die Galionsfigur der sogenannten „Fanforschung“ ins Feld geführt – Gunter A. Pilz, jüngst interviewt von der Münchner „TZ“. Anhänger des Vorwurfs, Pilz‘ Beobachtungen der Dynamik in den Fanszenen seien – vorsichtig ausgedrückt – nicht immer präzise, dürften sich ob so mancher Äußerung während des Gesprächs einmal mehr bestätigt fühlen. Auf die Frage, wie die Wut der Südkurvenfans des FC Bayern erklärbar sei, weiß Pilz keine rechte Antwort, denn – und dies gibt er offen zu – er sei „zu weit weg“. Dennoch, dies steht für ihn außer Zweifel, sei das Verhalten der Fans „durch nichts mehr zu rechtfertigen“. Als nächstes wirft er die Frage auf, ob die Sache mit der Meinungsfreiheit nicht auch zu weit ginge (vgl. Demonstrationsrecht bei Stuttgart21), denn das Spruchband („Hoeneß, du Lügner“), das übrigens laut Eigenaussage nicht von der Münchner Ultràgruppierung „Schickeria München“ stammt – und nüchtern betrachtet einiges an Wahrheit enthält -, schüre Hass und Gewalt. Apropos: Ausgerechnet die Schickeria gilt Pilz als Vorreiter einer von ihm ausgemachten negativen Entwicklung der zunehmenden Gewaltanwendung in Deutschlands Fanlandschaft. Wer sich intensiver mit den verschiedenen Fanszenen innerhalb der Bundesrepublik auseinandersetzt, kommt nicht umhin, des Fanforschers Kompetenz angesichts solcher Verlautbarungen ernsthaft in Frage zu stellen. Weitere Ausführungen sollen an dieser Stelle aber nicht erfolgen. Des Dilemmas Lösung hat der Analyst des Fangeschehens ohnehin bereits entdeckt: Die Aufständigen gehören zur Raison gebracht oder, wenn dies misslingt, ausgesperrt. Besonders interessant ist die von Pilz vorgenommene Subsumtion verbaler Angriffe und Kritik unter „Gewalt“ [1] – als ob nicht der Profifußball an sich mit seinen extremen physischen und psychischen Belastungen, dem Leistungsdruck und der mit allen Mitteln ausgefochtenen Konkurrenz innerhalb und außerhalb des eigenen Teams, nicht ein einziger Hort der „Gewalt“ wäre. Die Ungenauigkeit der Argumentation des Fanforschers weist frappierende Ähnlichkeit zur nationalen Bestürzung über Robert Enkes Tod vor zwei Jahren auf. Dass eben erwähnte (nicht immer delikate) Nebenwirkungen, welche nun wirklich kein fußballexklusives Phänomen darstellen – ein Blick auf die Selbstmordrate in einem führenden Industrieland wie Japan spricht Bände -, die logische Konsequenz eines auf Ein- und Unterteilung in Gewinner und Verlierer ausgerichteten Systems sind, will anscheinend keiner wahrhaben.

Weil nun mal außer Zweifel steht, dass es sich bei den Aufsässigen in der Tat mitnichten um eine kleine Splittergruppierung innerhalb der roten Fangemeinschaft handelt – einen offenen Brief, der die wesentlichen Forderungen der Südkurve teilt, unterschrieben mehr als 130 Fanklubs; auch hingen überall im Stadion als Zeichen des Protests die Zaunfahnen verkehrt herum – muss dann eben die Glaubwürdigkeit der „Parolen der Schickeria“ in Frage gestellt werden. Verblüffend deckungsgleich auch hier die Mechanismen zur Diskreditierung unliebsamer demokratischer Prozesse in Tagespolitik und Fanpolitik. Ob es sich nun um unerwünschte Wahlergebnisse in Palästina oder unbequem hohe Beteiligungsquoten an Widerstandsaktionen im politisch wenigstens stabileren München handelt – mit rechten Dingen kann das Ganze nicht zugegangen sein! Als Beweis dienen angebliche Gewaltandrohungen gegen Pro-Hoeneß-Aktivisten. Geflissentlich übersieht der Sport1-Redakteur allerdings die zahllosen Verwünschungen, Drohungen und Diffamierungen seitens Südkurvengegnern in den (Online-)Kommentarspalten der lokalen und überregionalen Gazetten. Aufschlussreich wäre an dieser Stelle mit Sicherheit ein kurzer Blick in die Postkästen der maßgeblichen Vorreiter des „Fanaufstandes“ durch den Autor. Dafür müsste man diesem jedoch (naiverweise) das Interesse an einer ausgewogenen Berichterstattung unterstellen.

Faktisch korrekt dagegen die Aufzählung vergleichbaren „Fanwütens“ bei Vereinen wie dem FC Schalke 04 [2] oder dem 1. FC Köln. Einen Grund für den Drang der aktiven Fans und Supporters, auch auf die Personalpolitik Einfluss zu nehmen – in Anbetracht der Tatsache, durch die Erzeugung der bei der konsumierenden Mittelschicht auf den Sitzplatztribünen so beliebten „Fußballatmosphäre“ maßgeblichen Anteil an den Einnahmen zu haben, mit denen die Transfers letztlich getätigt werden, entgegen anderslautender Auffassung des oben genannten Fanwissenschaftlers ein durchaus berechtigtes Anliegen – ist übrigens auch nicht weiter schwer. Die Identifikation der Fans mit den Spielern ihres Vereins dürfte vor der zunehmenden Kommerzialisierung des Fußballs, als „lebenslange Karrieren“ bei ein und demselben Verein beileibe keine Seltenheit darstellten, ungleich größer gewesen sein. Dennoch ist der Wunsch nach (dem eigenen, natürlich glorreichsten und besten Klub!) würdigen Akteuren ungebrochen, womit klar sein sollte, weshalb Münchner Ultras, welche sich nach eigener Auskunft zu 100% mit Verein und Stadt identifizieren, einen „Schalker Ultra im Torwarttrikot“ bei vollkommener Klarheit über dessen spielerische Fähigkeiten einfach nicht akzeptieren wollen und stattdessen eine Weiterverpflichtung der aktuellen Nummer 1 im Bayern-Tor, Thomas Kraft (seit 7 Jahren beim FC Bayern aktiv), favorisieren. Die Liste von Aufbegehren engagierter Fans gegen die nicht enden wollende Kommerzialisierung des Fußballs ließe sich freilich noch viel weiter fortsetzen. Die seit jeher antikapitalistisch eingestellten Anhänger des FC Sankt Pauli erregten kürzlich mit der Forderung nach einer Einstellung des Ausverkaufs der traditionellen Werte des Vereins große Aufmerksamkeit.[3]

Der Sport1-Artikel endet mit einigen zutreffenden Befunden über die von aktiven Fans [4] bekämpften Begleiterscheinungen des „modernen Fußballs“ – teure Eintrittskarten und Merchandisingprodukte, Pay-TV und überbordende Werbung – und das Anliegen dieser Fans, nicht vollends zu bloßen Konsumenten degradiert zu werden. Trotzdem sind „die Auswüchse der Fanokratie“ für den Autor „nicht zu rechtfertigen“.

Aktive Mitgestaltung durch die Basis – in unserer demokratischen Gesellschaft eben nur bedingt erwünscht. Der Fußball bildet da einmal mehr keine Ausnahme.


[1] Den Gewaltbegriff auf bloße verbale und körperliche Angriffe zu beschränken, zeugt von einer recht selektiven Wahrnehmung. Eine im Fußballzusammenhang sehr präsente Form der Gewalt thematisiert der Chemieblogger.

[2] Unpräzise dagegen wieder einmal die Angabe des tatsächlichen Hauptkritikpunktes der aktiven Schalker Fanszene: die ausufernden Alleinvertretungsansprüche des Trainernapoleons Felix Magath.

[3] Nicht wenige Journalisten gerieten ob des systemkritischen Hintergrunds der Bewegung „Bring back Sankt Pauli“ in Verlegenheit, passte dieser (und auch der neuerliche, zum Spielabbruch führende Becherwurf) doch so gar nicht in das von Vereinsführung und Medien konstruierte Bild des „kuschelig-kultigen Kiezklubs“.

[4] Dem Leser wird die Hervorhebung des Prädikats „aktiv“ beim Stehplatzkurvenfan nicht entgangen sein. Daher eine kurze Erläuterung der Bewandtnis dieser Titulierung: Der Zuschauer in der Fankurve, welcher versucht, mithilfe von Gesängen, Choreographien, Fahnenschwenken aktiv auf das Spielgeschehen einzugreifen (Motivation der eigenen Mannschaft durch „Support“), unterscheidet sich in großem Maße von der übrigen Zuschauerschaft auf den Sitzplätzen, in den Logen und vor allem vor den Sky-Flachbildschirmen. Der Grad der Identifikation mit dem eigenen Verein und damit die Interessenlage ist beim „Supporter“/“Ultra“ eine gänzlich anderer. Für die Wahrung des historisch gewachsenen Vereinsprofils (= Tradition) nimmt er eben auch mal sportlich-wirtschaftliche Entbehrungen der Lizenzabteilung des Klubs in Kauf,  Pfiffe bei einem für blamabel befundenen Halbzeitergebnis – in der Münchner Allianz-Arena allzu häufig ein 0:0 – sind ihm fremd und der Einsatz von Pyrotechnik ist für ihn eben nicht gleichbedeutend mit „Ausschreitungen“ oder „Krawallen“. Umlandfans – jede „Zecke“ will gleichzeitig „Pauli-Fan“ sein, wie eben gefühlt jeder zweite deutsche Fußballinteressent Bayern-Fan ist – sind ihm nicht selten ein Dorn im Auge, wenn sie dem Ur-Münchner/-St.Paulianer wieder einmal das Ticket „klauen“ und mangels fanszenetechnischem Wissen nicht aktiv an der akustischen Unterstützung der Mannschaft teilnehmen können. Diese Aspekte ließen sich noch endlos fortführen, sollen aber an dieser Stelle als exemplarische Darstellung des Sachverhalts genügen.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemeines abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten zu Einmal kurz genauer hingeschaut…

  1. AUAB schreibt:

    AUAB!!!!!!!!!!11111

  2. FuGo schreibt:

    Sehr gelungener Blogeintrag, auch wenn ich im Punkt Manuel Neuer anderer Meinung bin als die Bayern-Ultras. Da könnte man ruhig ein wenig gelassener sein. Gerade als Ultra müsste man ja die Gedankengänge des Gegenüber (Neuer als Ur-Schalker, aber eben auch bester Torwart Deutschlands) nachvollziehen können.
    Ansonsten trifft dein Blog aber wohl den Kern.

    • Sündenbock03 schreibt:

      Sehe ich ähnlich. Man könnte als Bayern-Ultra ja auch erfreut darüber sein, dass ein Spieler wie Manuel Neuer die Nähe zu den Fans sucht. Offenbar ist zwischen den beiden Ultraszenen zuviel vorgefallen (es sei an die Fanfreundschaft zwischen Schalkern und Glubberern erinnert), als man einfach den berühmten Schwamm drüber packen könnte. Aber wie du erfasst hast – mir geht es in erster Linie über die Berichterstattung über ein fundamentales Gut in unserer vermeintlich demokratischen Gesellschaft: die Meinungsäußerung an öffentlichen Stätten.

  3. Respekt für diese Abhandlung, vor allem in ihrer Tiefgründigkeit. Mehr davon!

Hinterlasse einen Kommentar